Kurzgeschichte: Alle meine Monster
Ich sitze am Frühstückstisch und habe soeben die Zeitung weggelegt als es klingelt. Ich frage mich, wer das sein könnte und drücke ohne eine Ahnung auf den Summer meiner Gegensprechanlage. Doch hinter meiner Tür ruft es nur knapp: „Ich bin schon oben!“
Ein wenig überrascht öffne ich die Tür und erblicke ein Monster, das etwas nervös von einem auf den anderen Fuß tritt. „Unten war offen!“, sagt es und lächelt dabei, als wolle es sich für diesen Umstand entschuldigen.
Mit einem kurzen Blick mustere ich das Monster. Es ist so gut zurecht gemacht, wie es für ein Monster eben geht, trägt einen grauen Hut mit dunkelgrauem Hutband, eine dazu passende breite, dunkelgraue Krawatte und einen Schnauzbart, der aussieht als hätte man ihn angeklebt. In einem seiner fünf Arme hält es einen kleinen braunen Aktenkoffer.
„Kann ich ihnen helfen?“, frage ich.
„Ähm, nun ja...“, stottert es und ein Tropfen von schleimigem Monster-Schweiß rinnt ihm unter dem Hut hervor, seitlich den Kopf hinunter – oder zumindest das, was man für den Kopf halten könnte. „Ich komme wegen der Flüchtlinge.“
„Aha. Sie meinen, Sie sammeln für die Flüchtlinge?“
„Nein, nicht so ganz...“
Das Monster trippelt wieder nervös hin und her und erst jetzt erkenne ich, dass es drei Füße hat, auf die es abwechseln das Gewicht seines massiven Oberkörpers verlagert. Ich werde ein wenig ungeduldig: „Also, worum geht es denn nun?“
Das Monster holt tief Luft, fasst sich ein Herz – oder mehrere, das kann ich an dieser Stelle nicht so genau beurteilen – und sagt: „Ich möchte bei Ihnen einziehen.“
Ein Schreckensbild von Monsterschleim in meiner gesamten Wohnung durchzuckt mich und ich muss wohl etwas abwesend wirken, denn das Monster wiederholt nun selbstbewusster: „Ich möchte bei Ihnen einziehen!“
Ich tauche aus meiner Gedankenwelt auf und frage: „Also sind Sie ein Flüchtling?“
„Nein.“
„Aber Sie kommen wegen der Flüchtlinge?“
„Ja.“
„Und möchten bei mir einziehen?“
„Ja.“
„Aber Sie selbst sind kein Flüchtling?“
„Nein.“
„Was sind Sie denn dann?“
„Ich bin ein Monster.“
„Ja, das sehe ich.“
„Sehr gut, ich war mir nicht sicher... mit dem Hut und der Krawatte und so...“
„Nein, keine Sorge. Hut und Krawatte stehen Ihnen fabelhaft, dennoch habe ich keinen Zweifel an Ihrer Monstrigkeit.“
„Oh, vielen Dank“, sagt das Monster und errötet im Karomuster am ganzen Körper.
„Gerne“, entgegne ich.
„Darf ich reinkommen?“ fragt das Monster.
„Nein!“, sage ich etwas ungehalten. „Was läuft denn hier?“
„Das Arbeitsamt schickt mich.“
„Das Arbeitsamt?“
„Ja.“
„Wegen der Flüchtlinge?“
„Ja. Vor Ebola, SARS, BSE und Vogelgrippe fürchtet sich ja keiner mehr.“
„Wie bitte?“
„Naja...ich bin gelerntes Krankheits-Angst-Monster. Aber der Markt für uns wird immer schwieriger. Alles wegen dieses technischen Fortschritts... Teufelszeug!“
„Moment, Moment, Moment! Krankheits-Angst-Monster?“
„Ja“, antwortet es ein wenig verklärt, um dann mit zunehmender Verzückung fortzufahren: „Als ich mich damals für meine Studienfachrichtung entschied, wollten wir alle Krankheits-Angst-Monster werden. Die Zeiten sahen so rosig aus, mit all den immer größer angelegten Massenproduktionen“, sagt das Monster mit tiefer Stimme und ergänzt in einem hohen piepsigen Ton: „und mit all den kleinen Viren, Bakterien und Keimen auf der anderen Seite, die sich darin ein Nest bauen konnten.“
„Aha,“ sage ich und versuche, den Faden nicht zu verlieren. Ich kann sehen, wie das Monster immer noch verzückt seinen Gedanken nachhängt. Um es wieder ins Hier und Jetzt zu holen, frage ich mit betont kräftiger Stimme: „Und was machen Sie jetzt?“
Das Monster zuckt kurz zusammen und verliert den glasig-verklärten Blick in seinen Augen. Es schiebt bedeutsam seinen Hut zurecht und antwortet: „Jetzt bin ich Flüchtlings-Angst-Monster. Ich habe umgeschult.“
„Umgeschult?“
„Ja, mit einer Fördermaßnahme der Agentur für Arbeit. Und jetzt muss ich zügig eine Bleibe finden, um meine Auflagen zu erfüllen. Sonst droht mir Harz Vier.“
„Harz Vier. Für ein Monster, das umgeschult hat. Von der Angst vor Krankheiten auf die Angst vor Flüchtlingen.“
„So ist es. Das erschien der Arbeitsagentur am aussichtsreichsten.“
„Aha.“
Kurzes Schweigen.
„Also hier können Sie nicht bleiben“, sage ich immer noch etwas überfordert von all den Informationen, die mir das Monster während der letzten Minuten präsentiert hat. Und um dem etwas Nachdruck zu verleihen, ergänze ich: „Ich habe ja gar keine Angst vor Flüchtlingen!“
Ein zufriedenes Grinsen breitet sich auf dem Gesicht des Monsters aus: „Ja genau! Und deswegen brauchen Sie mich! Ich erkläre Ihnen, wie die Flüchtlinge Ihre abendländische Kultur unterminieren. Wie sie Kriminalität und Terror ins Land bringen. Und natürlich nicht zu vergessen: Wie sie sich hemmungslos fortpflanzen, sodass in nur wenigen Jahren gar nichts mehr von Deutschland übrig sein wird. Dann kommt die Angst ganz von allein.“ Eifrig klappt das Monster seinen kleinen braunen Aktenkoffer auf und zieht ein paar Broschüren heraus, um damit vor meiner Nase herum zu wedeln.
Ich erwehre mich der Blätter in meinem Gesicht und schnauze zurück: „Ja, aber das will ich doch gar nicht! Und selbst, wenn ich Sie bei mir aufnehmen würde, ich wüsste ja gar nicht wohin mit Ihnen!“
Mit Schwung öffne ich die Wohnungstür, sodass das Monster geradewegs in mein Wohnzimmer schauen kann: „Sehen Sie doch!“, sage ich.
Auf meiner Couch sitzen zwei weitere fette Monster, die es sich gerade mit einer großen Tasse Kaffee und diversen Plunderstückchen gemütlich gemacht haben. Sie winken als sie das andere Monster vor meiner Tür entdecken: „Hallooo!“, offensichtlich erfreut, ihresgleichen zu sehen.
„Ich bin Versagensangst.“
„Und ich bin die tickende biologische Uhr.“
Das Monster vor meiner Tür winkt zurück: „Angst vor Flüchtlingen! Hallo Leute! Sieht nett aus da drinnen.“
„Jetzt schlägt’s aber dreizehn!“, unterbreche ich entnervt. „Sie sehen doch, dass da kein Platz mehr für Sie ist! Ich kann ja mit den beiden Schlaumeiern schon kaum noch einem normalen Leben nachgehen. Sagen Sie dem Arbeitsamt halt, was Sie wollen! Oder versuchen Sie es mal die Straße runter bei dem kleinen Einfamilienhaus mit der perfekt gestutzten Buchsbaumhecke und dem Sharan in der Einfahrt. Mir egal! Hier bleiben Sie jedenfalls nicht!“
In diesem Moment wird die Nachbarstür im Hausflur aufgerissen: „Geht das vielleischt och ä bissl leiser?“, poltert mein Nachbar. Sein Anblick in Shorts und weißem Feinripphemd lässt mich kurz überlegen, wen ich unattraktiver finde, ihn oder das Monster. Doch mein Gedankengang wird jäh von seiner nächsten Tirade unterbrochen: „Wie Se vielleischt schon festgeställd hobn, is heut Sonntach. Und da würd ma ja wohl noch seine Ruhe genießn dürfn! Schließlisch simmer rechtschaffendes Volk!“
Das Monster wird hellhörig. Insbesondere der letzte Satz scheint es ihm angetan zu haben. Es blättert kurz in einem kleinen roten Notizbuch und wendet sich anschließend mit einer kurios strammen Haltung meinem Nachbarn zu: „Bitte verzeihen Sie, ich wollte nicht stören! Schon erst recht Niemanden, der mit seiner rechtschaffenden Arbeit eine wichtige Stütze des deutschen Volkes ist und deswegen natürlich am Sonntag ausspannen möchte!“
„Genau!“, ruft es auf der anderen Seite.
Ich stehe wortlos neben dieser Szenerie und kann kaum fassen, was dann passiert. Das Monster deutet mit einem seiner Krakelarme in die Wohnung meines Nachbarn, die es offenbar in den vergangenen drei Sekunden bereits effizient ausgespäht hat und sagt: „Was für eine schöne Kuckucksuhr… und sogar mit Eichenkranz…!“, und quetscht sich im gleichen Moment an meinem Nachbarn vorbei in die Wohnung. Flutsch, ist es weg und nicht mehr zu sehen. Nur noch dumpf höre ich seine Stimme, die zunächst einige „Ahhhs“ und „Ohhhs“ von sich gibt und anschließend vergnügt weiter plappert: „Soso im Sportverein… TSV Unterofferduttenbach… wie toll!… Ach, und ein beinahe schon antik wirkender Ohrensessel… Und hier sogar sämtliche Lektüre von Thilo Sarrazin… das ist ja schon beinahe wie im Lehrbuch“, gluckst es fröhlich. Mein Nachbar ist inzwischen auch nicht mehr zu sehen und scheint dem Monster in seiner eigenen Wohnung hinterher zu laufen.
Ich bleibe noch ein paar Sekunden alleine im Hausflur stehen, bevor ich mich umdrehe, in meine Wohnung gehe und die Tür langsam hinter mir schließe – immer noch etwas verdutzt von den Eindrücken der vergangenen Minuten. Doch ich komme kaum dazu, meine Gedanken zu sortieren, denn Versagensangst und Tickende biologische Uhr rufen schon ganz aufgeregt nach mir: „Wo bleibst du denn? Wir haben Schnittchen gemacht und ein Sektchen geköpft – kommst du oder was?!“
Seit diesem Sonntag sind ein paar Wochen vergangen. Ab und zu lausche ich in einem stillen Moment, ob ich etwas aus der Nachbarwohnung hören kann, das auf das Flüchtlingsangst-Monster hinweist. Zudem meine ich, es hier und da vorbeihuschen zu sehen, wenn die Tür meines Nachbarn geöffnet ist.
Irgendwie ist mir nicht wohl bei dem Gedanken, dass es nebenan eingezogen ist. Doch jedes Mal, wenn ich überlege, ob und was ich dagegen tun könnte, kommt eines meiner eigenen Monster und verwickelt mich in irgendein Gespräch als könnten sie meine Gedanken lesen. – Ja, manchmal habe ich beinahe den Eindruck, sie und das Monster von nebenan kennen sich und stecken irgendwie unter einer Decke. Ich habe noch nicht ganz herausgefunden, wie. Aber mich beschleicht das Gefühl, als sollte ich dieser Sache einmal nachgehen.